Aufregung am Ententeich

von Klaus Michelsen

 

Der Erpel sah es als erster. Da er aber alles Neue fürchtete und jede Veränderung ablehnte, ignorierte er auch diesen seltsamen Eindringling in seine Welt und täuschte Schlaf vor, indem er seinen Kopf im Rückengefieder vergrub. Die Gans dagegen war neugierig. Sie watschelte auf das elende Häufchen zu, das da am Ufer lag und fragte: „Wer bist du denn? Dich hab‘ ich hier ja noch nie gesehen. Wo kommst du her? Du siehst ja zerrupft aus. Geht es dir nicht gut? Erpel, schau doch mal!“

Mit ihrem Geschnatter ließ sie der Gestalt am Ufer kaum Gelegenheit zu antworten.

„Ich merke schon, du willst dich sicher erst ausruhen. Dahinten am Schilf ist ein prima Platz, da stört dich keiner. Ich besuch dich nachher und dann reden wir ein bisschen.“

Die seltsame Ente, und das war sie zweifellos, schleppte sich zu der empfohlenen Stelle, schlief ein Weilchen und putzte sich ihre Federn. Als sie ihre Neugier nicht mehr zügeln konnte, wackelte die Gans zu der Neuen: „Na, nun siehst du doch schon ganz ordentlich aus. Erzähl mal, was ist mit dir!“

„Ich bin eine Tafelente und komme von weit her. Bei uns zu Hause ist die Hölle los, kann ich dir sagen. Die Igelschweine sind über uns hergefallen, und es werden immer mehr.“

„Igelschweine? Was ist das? Kenn‘ ich nicht!“

„Sie halten sich für etwas Besseres. Sie sagen, sie seien auserwählt und fressen alles auf, was sich ihnen in den Weg stellt. Meine Mutter und meinen Bruder haben sie schon erwischt. Da bin ich lieber abgehauen. Seit Tagen war ich unterwegs. Kann ich erstmal hierbleiben?“

„Klar kannst du das. Ich frag mal den Hausentenerpel, der da unter der Weide seinen Platz hat. Er kann dir sicher helfen, dich hier einzurichten.“

Die Gans machte sich gleich auf den Weg, aber die Antwort war sehr kühl: „Ich habe sie nicht gerufen. Was geht mich die Fremde an? Soll sie doch hinwatscheln, wo sie hergekommen ist! Ich will meine Ruhe haben.“

„Er will nicht“, sagte die Gans als sie zurück am Schilf war. „Dann kannst du mit zu mir kommen. Wird schon irgendwie gehen.“

Das Geschehen blieb nicht unbemerkt. Viele andere Tiere kamen und sahen sich den Gast an. Bei der einen Tafelente sollte es nicht bleiben. Am nächsten Morgen fanden sich drei weitere am Seeufer ein.

„Nun haben wir ein Problem“, sagte der Storch, „wahrscheinlich werden noch mehr Tafelenten zu uns kommen. Um die müssen wir uns irgendwie kümmern. Meine Frau ist noch nicht aus Afrika zurück. Bis sie kommt, können die drei bei mir wohnen.“

„Erpel, könntest du dich um deine Artgenossen …“, weiter kam der Storch nicht, denn der Erpel unterbrach ihn: „Lass mich in Ruhe! Sollen sie doch abhauen.“

Mehr und mehr Tafelenten kamen, und alle Vögel bemühten sich, ihnen zu helfen, jedenfalls fast alle.

„Mein Nest vom Vorjahr benutze ich nicht mehr, da kann einer drin wohnen“, flötete die Amsel. „Komm mit zum Haselstrauch!“

Eine Ente flatterte ihr hinterher. In einem Busch zu landen, ist für Enten gar nicht einfach, das können Amseln sich kaum vorstellen. Als es schließlich doch irgendwie gelang und die Ente sich in das Nest hocken wollte, purzelte das viel zu kleine Bauwerk aus dem Geäst. Mit Kreischen und Schnattern landete der arme Flüchtling auf dem Boden.

„So geht das wohl nicht, aber ich wollte doch auch helfen“, jammerte die Amsel.

„He, Mädels, jetzt werde ich euch einmal was zeigen“, ein freches rotes Eichhörnchenjunge gesellte sich zu den Vögeln. „Ich habe einen Kobel zu vermieten. Eigentlich ist es gar kein Kobel mehr, denn ich habe das Dach abgebaut und damit das Nest vergrößert. Nun ist es eine Villa für drei Enten, ein Drei-Mädel-Haus sozusagen. Es ist zwar im Efeu versteckt, aber ich kann Hilfestellung geben.“

Dann rannte er wichtigtuerisch auf und ab.

„Komm, kleine Ente, setze dich mal auf meinen Schweif!“

Dabei streckte er den buschigen Schwanz ganz gerade nach hinten und die Ente setzte sich darauf. „Siehst du, geht doch, und nun eine Etage höher das gleiche noch einmal.“

Flink kletterte das Eichhörnchen an der Hauswand mit dem Efeu hoch und hielt seinen Schweif gerade wie eben. „Komm schon, es passiert dir nichts!“

Die Tafelente flatterte hinauf und setzte sich auf den Schwanz. Mit einem eleganten Schwung beförderte das Eichhörnchen die Ente in das geräumige Nest.

„Die nächste bitte!“, rief er nach unten.

Bereits wenig später saßen drei Tafelenten hinter Efeu versteckt im Kobel.

„Schön hier oben, vielen Dank, aber wie kommen wir nach unten zum Fressen?“, fragten die Enten.

„Ich mach das schon“, antwortete das Eichhörnchen und sprang in wenigen Sätzen zur alten Weide.

„Sag mal Erpel, kannst du mir helfen, die drei Mädels in meiner Villa zu füttern?“

„Was geht mich das an? Lass mich in Ruhe!“

„Stures Federvieh, alles muss man selbst machen.“

Nach einigen Tagen fiel dem Eichhörnchen auf, dass alle Tafelenten sich von der anstrengenden Reise erholten, nur die drei im Kobel wurden immer stiller und magerer.

„Was ist nur mit euch? Seid ihr krank? Ich bringe euch doch laufend Futter.“

„Ja, das schon. Du gibst dir so viel Mühe mit uns“, drucksten die drei herum. „Wir danken dir sehr, aber wir können leider keine Haselnüsse und Eicheln zerbeißen. Wir haben doch gar keine Zähne.“

„Ach, du liebe Zeit, darauf hätte ich selbst kommen können.“

Schon war das Eichhörnchen wieder bei dem Erpel.

„Sag mal, du musst Entenfutter besorgen. Meine Mädels können doch keine Nüsse knacken. Nun mach schon!“

„Lass mich in Ruhe, sollen sie doch selbst Futter suchen! Machen doch alle.“

„Vielleicht kann ich ja endlich helfen“, meldete sich die Amsel zu Wort und machte sich sogleich an die Arbeit.

Sie brachte den Enten vorgekaute Regenwürmer und eingeweichten Klee. Das kam dem richtigen Entenfutter ziemlich nahe, und schon bald erholten sich die Drei. Die Amsel hatte sich Hilfe geholt, denn drei Tafelenten fressen mehr, als eine Amsel herbeischleppen kann, aber zu fünft schafften sie es.

Eines Abends gaben die Gäste des Storches Alarm: „Igelschweine! Ich sehe Igelschweine! Sie kommen, rettet euch!“

„Ich sehe nichts“, flötete die Amsel.

„Ich auch nicht“, schnatterte die Gans.

„Ich sehe auch nichts“, pfiff die Möwe, „aber sicherheitshalber werde ich schon mal die Fliegerstaffel in Alarmbereitschaft versetzen.“

Die Nacht war ruhig wie immer, erst in der Morgendämmerung riefen die Enten aus dem Storchennest wieder: „Unter der Weide liegt ein Igelschwein.“

Nun sahen es alle. Genüsslich schmatzend und grunzend suhlte sich dort ein Schwein.

„Dem wird das Schmatzen gleich vergehen“, sagte die Möwe. Dann schrie sie so laut, dass alle Vögel sich am liebsten die Ohren zu gehalten hätten, wenn sie es gekonnt hätten: „Angriff!“

Der Himmel verdunkelte sich, als vier Dutzend Silbermöwen und ebensoviele Sturmmöwen heransegelten. Schon schoss die erste im Sturzflug auf das Schwein, dann die nächste. Ein Hieb mit dem Schnabel und wieder steil aufwärts.

Die Luftakrobaten zeigten, was sie konnten. Manchmal stürzten zwei oder drei gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen herab. Dabei kreischten und schrien sie, dass einen allein davon die Angst packte.

Das Schwein ergriff die Flucht, die Möwen hinterher. Unterwegs trafen sie auf weitere Igelschweine. Als diese die schmerzhafte Vertreibung ihres Artgenossen sahen, drehten sie um und flohen ebenfalls. Eine weite Strecke lang verfolgten die Möwen sie noch.

„So, das hätten wir. Die kommen so schnell nicht wieder“, brüstete sich die Möwe, die zu Recht stolz auf ihre Leistung war.

Würdevoll schritt nun der Storch zum Seeufer und hielt eine kleine Ansprache: „Wir haben großes Glück gehabt. Hätten unsere neuen Mitbewohner uns nicht rechtzeitig gewarnt, dann hätten wir die Gefahr gar nicht erkannt. Durch den mutigen Einsatz der Möwen konnte der Feind in die Flucht geschlagen werden. Ich danke euch allen.“

Als der Wind ihm eine Feder vor die Füße wehte, hielt er inne. Die Gans schnatterte: „Wo ist eigentlich der Erpel?“

Schüchtern kam der Erpel aus dem Gebüsch hinzu.

„Die neuen sind eigentlich ganz nett. Es tut mir leid, dass ich nicht gesehen habe, dass sie nicht nur mehr Arbeit machen, sondern auch Stärken haben. Von nun an will ich euch so helfen, wie ich es schon längst hätte tun sollen.“

 

Die Bilder wurden gemalt von Rudolf Klinge. Diese sind im Buch nicht enthalten

Buchinfos

  • Titel: Die bunte Märchentraube
  • Autor: 23 Autorinnen und Autoren
  • ISBN: 9783944873442
  • Genre: Märchenbuch
  • Umfang: 176 Seiten
  • Format: A5, Hardcover
  • Empfohlenes Alter: ab 5 Jahre
  • Preis (Print): 18 Euro
  • Verfügbar (Printbuch): shop.carow-verlag.de