Die Magd

Von Wolfgang Breitkopf

 

Es war einmal eine Magd namens Marie. Nie zur Schule gegangen, durfte sie sich glücklich schätzen, ein Auskommen im Schloss gefunden zu haben. Freilich bestand der größte Teil ihrer Pflichten aus einfachen Putzarbeiten. Aber das, so sagte sie sich, ist ja für einen ungebildeten Bauern-trampel wie mich durchaus angemessen.

Etwas Traurigkeit empfand sie trotzdem.

Viele der Bediensteten trugen zum Wohl und Ruhme des Königshauses bei, krochen nicht nur unbemerkt auf dem Boden umher. Neidisch beobachtete Marie, während sie ihren Putzeimer vor sich herschob, die Wachen in ihren glänzenden Rüstungen, die die königlichen Gemächer beschützten. Von solch ehrenvollen, wichtigen Aufgaben konnte sie nur träumen.

Der Leibkoch des Königs eilte an ihr vorbei. In seinem Gefolge wie immer eine Schar von Küchenhilfen. Die leisteten ebenfalls Großartiges! Denn, was gab es schöneres als Königin und König mit vorzüglichen Speisen zu verwöhnen?

Sogar die eingebildeten ständig kichernden Ankleidedamen der Herrin schauten auf sie herab.

Zu Recht! Ihr traute man gerade noch zu, das Parkett zu wienern. Marie fühlte sich nutzlos. Wen interessierte es schon, ob die Holzpaneele etwas mehr oder weniger glänzten! Alle anderen steuerten einen bedeutenden Anteil zum Wohlergehen des Königpaares und der Pracht des Palasts bei. Lediglich sie selbst bewirkte nichts. Rein überhaupt nichts. Die Putzutensilien zusammenraffend begab sich Marie in den grenzenlos scheinenden Ballsaal. Morgen würde ein großer Empfang, anlässlich des Hochzeitstages des Königspaares, stattfinden. Der ganze Raum sollte mit Wachs auf Hochglanz gebracht werden. Eine mühselige Tätigkeit, die den gesamten Tag beanspruchen würde.

Die Glocken, die die herannahende Mittagsstunde verkündeten, läuteten bereits, als die abgedankte Mutter des Königs mit ihrem kleinen dicken Hund, an Marie vorbeirauschte. Natürlich ohne Marie eines Blickes zu würdigen.

Wie häufig in letzter Zeit, stellte sie einen verkniffenen Gesichtsausdruck zur Schau. Mit der Vermählung ihres einzigen Sohnes war sie von ihren Ämtern zurückgetreten. Seitdem verbreitete sie unentwegt missgestimmte Laune. Bis zur Hochzeit, eigenhändig die Geschicke des Reiches lenkend, stand sie nun in zweiter Reihe.

Jetzt nahm die Auserwählte ihres Kindes, des neu gekrönten Königs, ihren Platz als Vertraute und Beraterin ein. Das machte ihr schwer zu schaffen. Im Stillen verfluchte sie sich bitterlich, der Hochzeit zugestimmt zu haben. Kaum eine Gelegenheit blieb ungenutzt ihre Schwiegertochter, die ihrem eigenen Kopf Geltung verschaffte und jetzt das Sagen im Hause hatte, zu verunglimpfen.

Das ist einer der Vorteile, wenn einen keiner wahrnimmt, dachte Marie. Froh, dass sie den Unmut der verdrossenen alten Frau nicht abbekam. Eine mit einem Lumpen bewaffnete, am Boden kniende Magd, war eben einzig ein notwendiges Übel, welches selten Aufmerksamkeit verdiente.

Meist redeten die Hochwohlgeborenen trotz ihrer Anwesenheit so miteinander, wie wenn sie mutterseelenalleine auf der Welt wären. Seit sie versehentlich eine Vase umwarf, deren Inhalt den königlichen Mops benässte, wusste Marie um die Bösartigkeit der Königsmutter.

Ihren Zorn bekam Marie leibhaftig zu spüren. Sie meinte die Striemen auf ihrem Rücken immer noch zu fühlen. Marie fürchtete „die Alte“, wie sie unter vorgehaltener Hand genannt wurde und machte sich ganz klein. In diesem Moment war sie heilfroh, dass ihr grundsätzlich kaum jemand Interesse entgegenbrachte. Bei jeder Begegnung mit „der Alten“ zitterten ihr unwillkürlich die Knie. Wohingegen, wie so viele im Reich, verehrte auch Marie die junge Königin. Das Volk liebte seine frischgebackene Monarchin.

Kurz darauf trat der alte Zeremonienmeister ein. Zum wiederholten Male kontrollierte er, ob sich für die morgige Feier alles am rechten Platz befand. Zustimmend nickend, warf er Marie ein freundliches Lächeln zu.

Ihn mochte Marie gerne. Ab und an steckte er ihr ein paar Süßigkeiten zu. Auch dieses Mal.

„Honiggebäck! Das magst du doch besonders gerne“, sagte er, „weil du so fleißig bist.“

Freudestrahlend steckte Marie die Nascherei in ihre Schürzentasche. Die restliche Zeit bemühte sie sich gut gelaunt, das Parkett besonders gleichmäßig und sorgsam mit Wachs aufzupolieren.

Am folgenden Abend war es dann soweit. Die Feierlichkeiten begannen. Mit dem Gesinde, längst für die anstehenden Aufgaben eingeteilt, stand Marie mit anderen Mädchen an einer Seitenwand aufgereiht, um schnell mit dem Putzlappen zur Hand zu sein, sollte ein Malheur passieren oder falls kleine Botengänge anstanden.

Der festlich geschmückte Saal erstrahlte in wahrer Pracht. In den Kandelabern flackerten die Kerzen, Girlanden verzierten die Wände.

Die im Salon versammelten Gäste schritten, wie es das Protokoll vorsah, hinter dem Königspaar, gefolgt von der Königsmutter, in die Halle. Mit ihren Tanzschuhen kam „die Alte“ auf dem frisch gebohnerten Fußboden beinahe ins Rutschen, weshalb sie fürchterlich darüber schimpfte, welcher unfähige Kretin denn die Holzdielen so glattpoliert habe.

Marie zuckte zusammen, senkte den Kopf und versuchte unsichtbar zu werden.

Die Musik spielte auf. Jeder bewunderte ehrfürchtig das Schauspiel der hereinstolzierenden Gesellschaft. Die Anwesenden zeigten sich von der Anmut der jungen Majestät so fasziniert, dass niemandem der unscheinbare Mann auffiel, der sich langsam zwischen den spalierstehenden Zuschauern nach vorne drängelte. Dann brach er urplötzlich aus der Reihe aus und stürmte, mit einem mächtigen Dolch bewaffnet, auf die Königin zu.

Selbst die Wachen wirkten vor Entsetzen versteinert und zu keiner Bewegung fähig. Einzig um die Lippen der Königsmutter, meinte Marie ein leichtes Lächeln zu erkennen.

Das Drama schien unaufhaltsam seinen Lauf zu nehmen. Fast hatte der gedungene Attentäter sein Ziel erreicht, als ihm durch seinen Schwung jäh auf dem frisch gewachsten Untergrund, die Beine unter dem Leib wegrutschten. Mit großem Gepolter landete er auf seinem Allerwertesten, direkt vor den Füßen seines mutmaßlichen Opfers.

Jetzt löste sich die Erstarrung der Soldaten. Binnen Sekunden war der Angreifer überwältigt. Der Schock steckte jedem in den Gliedern. Die Schwiegermutter der noch verdattert dreinblickenden Königin fand zuerst die Fassung wieder.

Mit lauter, wütender Stimme rief sie in die Menge hinein: „Ich frage zum allerletzten Mal! Wer zum Teufel hat dieses Parkett gebohnert?“

Maries Herz schlug bis zum Hals. Hoffentlich dachte niemand an sie. Aber ihre Besorgnis war unbegründet. Keiner der Anwesenden wagte ein Wort zu äußern. Auf Geheiß des Königspaares fand der Tanz, ungeachtet der anfänglichen Aufregung, trotzdem statt und dauerte bis Sonnenaufgang an.

Endlich in ihrem Bett liegend, gingen Marie die Geschehnisse des Abends erneut durch den Kopf. Auf einmal empfand sie stolz für ihre Leistung. Ihren Beitrag, der unscheinbar schien und doch den Ausschlag gab. Nur ein bisschen mit Liebe aufgetragene Politur! Allein ihre Plackerei des letzten Tages verhinderte den Tod der geliebten Herrscherin! Es spielte keine Rolle, dass sie niemals Lob dafür erhalten würde. Marie wusste jetzt, dass sie weder unnütz noch wertlos war.

Es sei erwähnt, dass irgendeine gute Seele im Nachhinein fallen ließ, wer den Attentäter mit seiner gründlichen Arbeit zu Fall brachte.

Marie musste anschließend nie wieder Böden wienern.

Buchinfos

  • Titel: Die bunte Märchentraube
  • Autor: 23 Autorinnen und Autoren
  • ISBN: 9783944873442
  • Genre: Märchenbuch
  • Umfang: 176 Seiten
  • Format: A5, Hardcover
  • Empfohlenes Alter: ab 5 Jahre
  • Preis (Print): 18 Euro
  • Verfügbar (Printbuch): shop.carow-verlag.de